Das Faultier – Ein illustriertes Kinderbuch

Vor 110 Jahren erschien „Unter Tieren“ von Manfred Kyber. Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von Kurzgeschichten, in welchen wir so liebenswerten Gestalten wie Jakob Krakel Kakel, Hieronymus Kragenpeter und Balduin Brummsel begegnen. Mein Humor wurde genau getroffen und ich konnte mir beim Lesen den ein oder anderen Schmunzler nicht verkneifen. Kyber hält uns mit seinen Tiergeschichten einen Spiegel vor, indem er seinen Tieren menschliche Charaktere gibt. In seinen Erzählungen steckt so viel Witz und Scharfsinn, aber auch irgendwo dezent eine tieferer Bedeutung. Diese Geschichten wollen erzählt und gehört werden. Also fange ich nun damit an und lasse die Tiergeschichten neu aufleben.

Die Geschichte handelt von einem Pinseläffchen, dass mit der Hilfe eines Ratgeber-Buches energischer werden möchte. Während der Lektüre trifft es auf ein Faultier. Dieses seufzt vor sich hin und ist die Ruhe selbst. Das Äffchen ist der Ansicht, dass das Fautier auch energischer werden sollte.

Das Faultier hing an einem Ast und duselte vor sich hin.

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

Es seufzte herzbeweglich. Seufzen hielt es für schlafbefördernd.

Unten am Stamme des Baumes saß ein kleines Pinseläffchen und las in einem Buch. Das Buch war auf Baumrinde geschrieben und in Lianengeflecht gebunden. Den Entwurf dazu hatte eine Giftspinne gezeichnet – eigenbeinig. Darum war der Einband giftgrün geworden. Das Buch hieß: »Wie werde ich energisch?« Solches hatte das Äffchen sehr nötig. Denn Pinseläffchen sind zarte und schüchterne Geschöpfe. Das Faultier seufzte herzbeweglich.

»Was fehlt Ihnen denn eigentlich?« fragte das Äffchen teilnehmend und guckte nach oben. »Ist Ihnen nicht wohl?«

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

»Sie sind gewiß krank«, sagte das Äffchen und kletterte hilfsbereit nach oben.

Das Faultier rührte sich nicht.

»Ich bin hungrig«, sagte es und seufzte.

»Aber dicht über Ihnen hängen ja die schönsten Früchte und Blätter«, sagte das Äffchen erstaunt.

Das Faultier blinzelte nach oben.

»Ich bin zu faul«, sagte es und seufzte.

»Sie müssen das Buch lesen ›Wie werde ich energisch?‹«, sagte das Äffchen eifrig und zeigte auf den giftgrünen Einband. »Eine Tante von mir hat das Buch gelesen und ist so energisch geworden, daß kein Affe mehr mit ihr leben kann. Meine Tante fletscht die Zähne und schmeißt mit Steinen. So energisch ist siegeworden.«

»Daß ich ein Buch lese, ist vollständig ausgeschlossen«, sagte das Faultier.

»Ja, was machen wir denn da?« sagte das Äffchen ratlos. »Sie können doch nicht einfach verhungern vor den reifen Früchten!

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

Das Pinseläffchen hatte ein sehr weiches Herz. Es konnte das Seufzen nicht mehr anhören. Es nahm ein Bündel Blätter und stopfte es dem Faultier ins Maul. Das Faultier kaute schwer und mühsam, mit geschlossenen Augen. Das Äffchen stopfte und half mit den Füßen nach.

»So geht es aber nicht weiter«, sagte das Pinseläffchen nach dem eingestopften Diner. »Sie müssen energisch werden. Ich werde Ihnen das Buch ›Wie werde ich energisch? ‹ vorlesen, da Sie schon zu faul sind, es selbst zu lesen. Aber Sie müssen aufmerksam zuhören.«

»Daß ich zuhöre, wenn ein Buch vorgelesen wird, ist vollständig ausgeschlossen«, dachte das Faultier. Es sagte das aber nicht mehr. Es war zu faul dazu.

Das Äffchen setzte sich neben das Faultier und nahm den giftgrün en Einband zur Hand. Es las das ganze Buch mit lauter Stimme von Anfang bis zu Ende.

»Sind Sie nun energisch geworden?« fragte das Äffchen und sah

das Faultier erwartungsvoll an.

Das Faultier rührte sich nicht. Es war eingeschlafen.

Da nahm das zarte Pinseläffchen das Buch ›Wie werde ich energisch?‹ und warf es dem Faultier wütend an den Kopf. So energisch war es geworden – beinahe wie seine Tante, die mit . Steinen schmiß und die Zähne fletschte.

»A-i«, sagte das Faultier und seufzte.

Man sagt, daß die Faultiere aussterben. Das glaube ich nicht. Wenn sie aber wirklich aussterben, so sind sie der beste Beweis für die Seelenwanderung.

Quelle zum Text: www.projekt-gutenberg.org